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Dr.Peter Rösner, Leiter der Stiftung Louisenlund
Dr.Peter Rösner, Leiter der Stiftung Louisenlund

Blog-Eintrag -

Dr. Peter Rösner: „Ausländerfeindlich ist keiner von uns“

Eine zwanzigminütige Taxifahrt von Schleswig, etwa eineinhalb Stunden von Hamburg entfernt, liegt das Internat Louisenlund. Über das idyllische Gelände an der Schlei, zwischen Gildenhäusern, Gärten und Schloss, schreiten heute Sicherheitsleute. Eine Empfehlung des Staatsschutzes, erklärt der Stiftungsleiter Peter Rösner. Wenige Tage nach der Verbreitung eines Videos aus der Sylter Pony-Bar, das zeigt, wie Gäste die ausländerfeindlichen, auch von Neonazis häufig benutzten Parolen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ zu der Party-Melodie „L’amour toujours“ von DJ Gigi D’Agostino sangen, wurde auch hier am Donnerstag eine Schülerparty abgebrochen, weil acht Schüler es den Syltern gleichtaten. 40 Schülerinnen und Schüler zwischen 15 und 17 Jahren waren auf der Party. Sie wurden von drei Pädagogen begleitet.

Sylt und Louisenlund verschwimmen jetzt in der allgemeinen Wahrnehmung immer mehr. Zu Sylt titelt der „Stern“ „Die Champagner-Nazis“ und fragt: „Wie rassistisch sind die Reichen?“ Es ist von „Prosecco-Rassismus“ die Rede, von „privilegierten Pulli-Trägern“ und „faschistoiden Schnöseln“. Der Bundeskanzler hat sich zu Wort gemeldet, Politiker und Medien drücken Bestürzung, Empörung und Ekel aus.

Wie geht es den Schülern in Louisenlund mit der neuen Aufmerksamkeit? Einige Schüler erzählen, dass sie bereits im örtlichen Supermarkt als Nazis beschimpft wurden. Ein Schüler mit ausländischen Wurzeln erklärt, dass er das Gebrüll auf der Party „uncool und dumm“ finde, er sich selbst jedoch „nicht von diesem Ereignis angegriffen“ fühle. „Die involvierten Schüler sind auf keinen Fall ausländerfeindlich. Viele von ihnen sind enge Freunde von mir und ich muss einfach klarstellen: Ausländerfeindlich ist keiner von uns.“ Die Diskreditierung in vielen Medien finde er unangemessen.

Im Schloss, dessen Eingang das Freimaurer-Symbol ziert, liegt rechts die Bibliothek und links das Büro von Peter Rösner. Seine eigenen vier Kinder gehen auch hier zur Schule, der älteste hat gerade Abitur gemacht. Am Dienstagmorgen um 9:40 Uhr sitzen fünf Mitglieder der Schülervertretung um einen runden Holztisch. Es ist nur eines von vielen Aufarbeitungs-Gesprächen, die hier in „Lund“, wie die Schüler das Internat nennen, seit Tagen von morgens bis abends geführt werden. Gerade erklärt Rösner den Jugendlichen, dass der Staatsschutz gestern hier gewesen sei. „Wir gehen davon aus, dass das Singen der Parolen im Schülerhaus nicht strafrechtlich verfolgt wird, weil das Schülerhaus im Gegensatz zum Sylter Pony kein öffentlicher Raum ist und auch keine verfassungsfeindlichen Symbole gezeigt wurden. Da haben acht Schüler richtig Scheiße gebaut, das ist klar“, sagt Rösner.

Und: „Ein Glück, dass Frau Braun da war. Frau Braun hat übrigens deshalb so scharf reagiert, weil sie aus dem Osten Deutschlands kommt und ungefähr in eurem Alter war, als in Rostock 1992 ähnliche Parolen gebrüllt wurden. Damals ist es so eskaliert, dass es am Ende gebrannt hat. Das hat Frau Braun als junge Frau sehr bewegt, deshalb ist sie auch persönlich betroffen und hat am Donnerstag so instantan reagiert.“ Jeder Schüler, ergänzt Rösner, könne jederzeit das neue Sicherheitspersonal kontaktieren, wenn ungewünschte Gäste in den geschützten Raum des Internats eindringen: „Das kann alles sein von Neonazis über die Letzte Generation bis hin zu aufdringlichen Journalisten mit Kamera.“ Rösner spricht ruhig und freundlich, er nimmt sich Zeit. Und betont: „Ich bin davon überzeugt, dass wir im Grundsatz kein wirkliches Problem mit Rechtsextremismus haben. Wir haben hier aber mehrere hundert Kinder, und ich bin mir sicher, dass es da sehr unterschiedliche politische Haltungen gibt. Dass wir hier ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit haben, das schließe ich aus.“

Er blickt in die Runde. „Gibt es Fragen?“ Ein Schüler meldet sich. Ihm machen die Artikel in den Medien Sorgen, in denen die Schüler als Nazis diffamiert werden. „Es gibt viele, die etwas gegen uns haben“, nickt Rösner. „Da sind Leute aus der Region darunter, die sich mal hier beworben haben, aber nicht angestellt wurden, und das dem Internat jetzt jahrzehntelang nachtragen. Sie sind beleidigt und verbittert. Andere wiederum haben keine Stipendien für ihre Kinder bekommen. Wenn man so lange existiert wie diese Stiftung, dann haben über die Zeit auch viele Menschen negative oder ablehnende Erfahrungen gemacht, die sie nicht vergessen können. Und in dieser Gemengelage sagen sie dann bei einem Vorfall wie jetzt: ‚Gott sei Dank, dass ich damals nicht genommen worden bin. Gott sei Dank, dass meine Kinder nicht da sind. Ich habe es immer gewusst. Eigentlich ist es sogar besser so.‘ Das hilft den Menschen psychologisch. Dazu kommt sicherlich der Neid und die Missgunst, weil wir hier natürlich Privilegien haben, die viele Menschen nicht haben.“

Derselbe Schüler meldet sich noch einmal: „Eine Lehrerin hat gesagt, dass es jetzt unsere Verantwortung sei, etwas zu organisieren, um dem Eindruck, den wir erweckt haben, entgegenzuwirken.“ Er finde das eigentlich eine Nummer zu groß, habe aber auch schon Ideen: Zeitzeugen einladen, eine Schülerkette vom Hof zum Schloss zu bilden. „Ich finde nicht, dass das eure Verantwortung ist“, entgegnet Rösner entschieden. „Ihr werdet nicht in Sippenhaft genommen für das, was acht Schüler getan haben. Aber deine Ideen finde ich gut. Wir müssen uns fragen, was wir daraus lernen können. Das sind genau die Dinge, die jetzt kommen müssen. Und ich glaube, dass wir jetzt alle sehr offen dafür sind. Und das sollten wir nutzen. Für uns alle. Gut wäre auch eine Informationsveranstaltung, wo erklärt wird, warum es in Deutschland, anders als etwa den USA, tabu ist, bestimmte Dinge zu sagen. Oder was genau die Funktion und die Aufgaben des Staatsschutzes sind.“

Nach der Sitzung verlassen die Schülervertreter Rösners Büro. Wir bleiben mit Rösner und zwei Schülern zum Gespräch da. Beide sind erst seit ein paar Jahren in Louisenlund, der eine seit zweieinhalb, der andere seit anderthalb Jahren. Beide bleiben anonym.

WELT (Interview: Marie-Luise Goldmann)

Es ist gerade viel von „der Elite“ die Rede. Woher kommen die Schüler, die das Internat Louisenlund besuchen?

Peter Rösner: Es gibt drei große Gruppen. Die eine Gruppe sind Familien, die zum Teil schon seit mehreren Generationen ihre Kinder hier haben. Das sind häufig adelige Familien, die vielleicht auch noch einen großen Grundbesitz haben. Wenn Sie sich die Namen anschauen, dann finden Sie viele Namen des alten Adels, den Sie aus der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg aus den Geschichtsbüchern kennen. Wenn Sie sich das Schülerverzeichnis dieser Schule anschauen, dann wette ich, dass Sie die Hälfte der Namen kennen, obwohl Sie die Menschen nicht kennen. Die zweite Gruppe sind Kinder, deren Eltern Unternehmer sind und die wenig Zeit haben oder viel unterwegs sind und ihre Kinder daher im Internat gut aufgehoben wissen. Die dritte Gruppe sind die Stipendiaten, das sind etwa 80 Schüler von 320. Hochbegabung ist ja nicht an die soziale Herkunft gekoppelt. Wenn also viele von einer reinen Eliteschule sprechen, dann stimmt das nicht. Eigentlich gibt es noch eine vierte Gruppe, die internationalen Schüler.

Wie viele Schüler in Louisenlund haben einen Migrationshintergrund?

Rösner: Wir haben etwa 60 von 320 Schülern hier, deren Eltern im Ausland leben, in fünfzehn verschiedenen Ländern. Wenn man die Schüler dazurechnet, deren Eltern in Deutschland leben, aber aus einem anderen Land kommen, sind es deutlich mehr. Etwa 20 von unseren 80 Lehrkräften sind Ausländer.

Wie habt ihr die Vorfälle auf der Party am Donnerstag erlebt?

Schüler 1: Ich war auf der Toilette und habe daher nur die letzten Sekunden des Liedes mitgehört. Das Ganze dauerte ja nur 30 oder 20 Sekunden. Dann ging schon das Licht aus und alles wurde abgebrochen.

Schüler 2: Ich stand mit Frau Braun hinter der Bar. Sie ist direkt zum Schalter gegangen und hat den Strom komplett ausgeschaltet. Also Licht aus, Musik aus, alles aus. Dann hat sie sofort geschrien. Sie ist wie eine Furie auf die Schülerschaft losgegangen. Sie hat gerufen „Was soll das?“ und sich die Leute, die das gesungen haben, vorgenommen.

Und die acht Schüler, die mitgesungen haben, werden jetzt für eine Woche suspendiert?

Rösner: Genau, das ist die Strafe, die wir jetzt verhängen.

Woher kannten die Schüler das Lied?

Schüler 2: Das Lied kennt man, es ist ein Partylied, das wir auch schon öfters mal im Schulhaus gehört haben. Zu diesem Beat wurde auch schon vor Monaten auf irgendwelchen Feiern „Ausländer raus“ gesungen. Jetzt ist es auch in Lund passiert, und durch das Sylt-Video und die Medien ist es richtig hochgekocht.

Wie habt ihr den Gesang empfunden?

Schüler 2: Man denkt sich nicht viel dabei. Ich habe nicht gedacht, dass die, die gesungen haben, jetzt wirklich alle Ausländer raus haben wollen. Es war einfach eine Nachahmung, eine Scheißaktion.

Und war euch bewusst, dass der Text einen rassistischen Hintergrund hat?

Schüler 1: Als ich den Gesang gehört habe, war mir schon irgendwie klar, dass gleich etwas passieren muss, dass das so nicht weitergehen kann. Aber wenn ich ehrlich bin, bin ich jetzt auch nicht aufgestanden und habe gesagt: „Alles leise, aufhören damit!“

Schüler 2: Ich habe gedacht, wenn ich jetzt auch nach vorne gehe und die anderen anschreie, dann denken die nur, dass ich auch betrunken bin und mitmache. Also habe ich Frau Braun angeschaut und gesehen, dass sie schon auf dem Weg war, eine Ansage zu machen. Weil sie gerade auf Krücken geht, habe ich ihr die Klappe hinter der Bar aufgehalten, damit sie rausgehen kann.

Habt ihr Verständnis für die Reaktionen, die jetzt von Politikern und in den Medien folgen?

Schüler 2: Es ist ein bisschen verständlich, aber von manchen Medien ist es auch überspitzt dargestellt.

Rösner: Jemand aus dem Kollegium hat die E-Mail von Frau Braun, in der sie mich und die anderen Lehrer über den Vorfall informiert hat, an die Presse weitergeleitet. Ich war an dem Wochenende nicht da und habe alle Presseanfragen gebeten, mir bis Montag Zeit für ein Statement zu geben. Drei haben es akzeptiert, die „Morgenpost“ hat am Sonntag diese Meldung veröffentlicht. Dann haben sich die anderen Zeitungen auch nicht mehr verpflichtet gefühlt, zu warten, und sind nachgezogen. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal eine Chance, mit meinen Schülern zu sprechen. Auch ohne die medialen Reaktionen wäre ich mit dem Fall genauso umgegangen wie jetzt auch. Der einzige Unterschied ist, dass wir jetzt sehr viele Zuschauer haben.

Ein Grund, warum die Vorfälle viele Leute so bewegen, ist, dass sie im öffentlichen oder halböffentlichen Raum passiert sind, solche Äußerungen also immer akzeptierter zu sein scheinen. Seht ihr das Problem eines Rechtsrucks unter Jugendlichen? Statistiken zeigen, dass immer mehr junge Leute die AfD wählen.

Schüler 2: Ich würde nicht sagen, dass es etwas mit Rechtsextremismus zu tun hat, wenn junge Leute häufiger die AfD wählen. Ich glaube auch nicht, dass wir insgesamt ein Problem mit Rechtsextremismus haben. Wir sind eine große Schule mit vielen Ausländern.

Schüler 1: Ich glaube das auch nicht. Mein bester Freund, der dunkelhäutig ist, sagt, dass er hier keinen Rassismus erlebt. Wir haben auch die Chinesen gefragt, ob sie sich verletzt gefühlt haben von dem Lied, und sie meinten, nein. Ich glaube, es würde sie eher stören, wenn man zu ihnen unter vier Augen „Ey, du Ausländer“ sagen würde oder sie in einer kleineren Gruppe beleidigen würde. Aber so hat es sie nicht interessiert, weil es nicht spezifisch war.

Schüler 2: Die Medien stürzen sich auch alle darauf, dass wir Hemden tragen oder angeblich nur Champagner trinken würden. Wir sind für die nur die Reichen.

Und an dem Vorurteil ist nichts dran?

Rösner: Nochmal: Wir haben hier 80 Kinder, die aus wirklich einfachen Verhältnissen kommen. Und ich finde, man darf ordentlich gekleidet sein, wenn man in die Schule geht. Ja, da ist ein Hemd wirklich angemessen, aber nicht nur in Louisenlund.

Schüler 1: Ich dachte jetzt einfach, dass ich das jetzt für dieses Interview trage [blickt an sich herunter].

Schüler 2: Alle Medien schreiben ja auch darüber, wie viel das hier kostet. Ein Artikel hatte das sogar groß in der Überschrift: „Dieses Internat kostet 50.000 Euro im Jahr.“

Also würdet ihr nicht sagen, dass es unter wohlhabenden Menschen mehr Rechtsradikale gibt?

Schüler 2: Insgesamt gar nicht. Dass mehr junge Leute die AfD wählen, liegt zum großen Teil einfach daran, dass die AfD die Protest-Partei ist, weil man sonst nichts wählen kann. Weil die jungen Leute von der Regierung enttäuscht sind. Oder manche wählen sie zum Spaß, weil sie denken, das wäre lustig.

Schüler 1: Ich kenne keinen, der mir hier gesagt hat, dass er jetzt aktiv die AfD wählen würde.

Rösner: Ich kann Ihnen gerne die E-Mail einer Psychiatrie-Professorin zeigen, deren Töchter in Louisenlund sind [zeigt die E-Mail]. Als „türkische (und muslimische) Mutter“ von Töchtern in Louisenlund drückt sie „ihre volle Unterstützung mit der Stiftung aus“. Sie schreibt: „Ich persönlich hatte nie den Eindruck der Diskriminierung oder Fremdenfeindlichkeit, was die Erfahrungen meiner Töchter in Lund angeht. Im Gegenteil sind sie (…) hier sehr glücklich und ziehen nach ihren positiven Erfahrungen in Lund nie eine andere Schule in Erwägung.“

War das Singen der Parolen auch eine Art Protest?

Rösner: Ich glaube, dass Jugendliche, vor allem, wenn sie etwas getrunken haben, oft Lust haben, etwas Verbotenes zu machen. Das ist jugendliche Allmacht und Übermut. Der Glaube: Mir kann keiner was, mir gehört die Welt. Das hat aber nichts mit Reichtum zu tun. Das ist eine Phase in der Pubertät, in der man sich gottgleich fühlt. Wenn Sie als junger Mensch nicht an Ihre Grenzen gehen, werden Sie nicht erwachsen. Ich bin seit zehn Jahren hier und früher hatte ich ganz andere Disziplin-Probleme mit Schülern, die ich jetzt alle nicht mehr habe. Die Schüler sind heute eigentlich alle sehr brav. Den Lehrer in die Pfanne zu hauen, das tun die nicht mehr. Ich mag meine Schüler sehr, sie sind ausgesprochen höflich und wertschätzend, sie gehen respektvoll miteinander und mit den Erwachsenen um. Dass sie mal an ihre Grenzen gehen, kommt eigentlich wirklich selten vor. Und wenn Sie jetzt nach Protest fragen, dann muss man überlegen, wie das noch geht. Linken Protest gibt es ja nicht mehr.

Gibt es hier an der Schule keine Vertreter der „Letzten Generation“?

Rösner: Nein, aber es gab viele Schüler, die mit „Fridays for Future“ auf die Straße gegangen sind. Ein großer Teil hat sich dem aber auch nicht angeschlossen, offen gesagt.

Schüler 1: Wenn ich rassistisch zu jemandem wäre, weil er Ausländer ist, dann würde ich sofort fertiggemacht werden, weil ich einen Ausländer runtermache. Wir Schüler erziehen uns selber gegenseitig.

Rösner: 320 junge Menschen sind eine große Familie. Als Corona kam und man sich nicht mehr treffen durfte, lief diese Schule weiter. Es war die einzige Schule in Deutschland, die keinen einzigen Tag geschlossen war. Die Jugendphase ist eine eigenständige Lebensphase und Jugendliche sind eben noch nicht fertig erwachsen. Jugendliche sind Jugendliche. Das muss man den Leuten auch sagen. Ich höre jetzt immer wieder, dass wir ja da diese schönen Werte der Weltoffenheit und Toleranz vor uns hertragen würden, und uns dann gar nicht daran hielten. Das ist falsch. Wir halten sehr wohl daran. Wir haben junge Menschen, die sollen das lernen, und die sind ja hier, weil sie es noch nicht verinnerlicht haben. Durch eigene Einsicht sollen die jungen Menschen am Ende wertvolle Mitglieder dieser Gesellschaft werden. Aber das ist ein Prozess. Und Jugendliche sind eben nicht fertig, wenn sie hierherkommen und leben dann vom ersten Tag an mustergültig die Werte, die wir so vermeintlich moralisch vor uns her tragen. Nein, sie lernen sie.

Wie findet ihr es, dass das Lied „L’amour toujours“ jetzt auf dem Oktoberfest verboten ist?

Schüler 2: Ich finde es blöd, ein Lied zu verbieten, das gar nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun hat. Okay, der Text reimt sich darauf, aber ich kann mir auch ein anderes Lied suchen und dazu „Ausländer raus, Deutschland den Deutschen“ singen. Man sollte nur die Parole verbieten, aber nicht gleich das ganze Lied. Der Künstler des Lieds denkt sich jetzt auch, was zur Hölle?

Rösner: Ich verstehe, was du sagst. Ich sehe es aber ein bisschen anders. Wenn auf dem Oktoberfest oder in einem Fußballstadion 100.000 Leute dieses Lied singen – was macht man dann? Man kann nicht 100.000 Leute auf einmal verhaften. Die große Gefahr ist, dass es eine gesellschaftliche Trotzreaktion gibt von Leuten, die sagen: „Staat, du kannst uns mal am Arsch lecken, und jetzt singen wir es nicht zu fünft oder zu acht, sondern mit 100.000.“ In so einer Situation hat man keine Macht mehr. Man kann das nicht kontrollieren. Deshalb glaube ich, dass es richtig ist, diese Gelegenheit gar nicht erst zu schaffen.

Darf das Lied hier im Internat noch gespielt werden?

Rösner: Nein, das Lied wurde gestern aus der Playlist des Schulhauses gestrichen.

Schüler 2: Schade, weil ich mochte das Lied eigentlich. Es ist so ein guter Partysong.

Was steht jetzt noch an Aufarbeitung an?

Rösner: Viel. Morgen gibt es ein Treffen mit den Küchenangestellten, auch mit denen muss man das jetzt alles besprechen. Es gibt so viele Gefühle, auch verletzte Gefühle etwa unter nicht-deutschen Lehrern. Man muss sowohl diesen Gefühlen gerecht werden als auch den Gefühlen der Jugendlichen, die jetzt suspendiert sind, und die vielleicht so etwas wie Scham empfinden. Es gibt relevant viele Rückmeldungen, die sagen: „Wieso hast du sie nicht rausgeschmissen?“

Was antworten Sie dann?

Rösner: Ich glaube, dass die persönliche Betroffenheit gerade dieser Schüler jetzt eine echte Chance bietet, Haltung und Werte in die richtige Richtung zu entwickeln. Wenn ich die jetzt rausschmeißen würde, wäre das eine pädagogische Bankrotterklärung. Wo sollen die denn dann hingehen? Wird eine andere Schule mit den Kindern aufarbeiten, was sie erlebt haben? Das glaube ich nicht. Das ist jetzt unser Auftrag als Pädagogen. Ich finde, dass in einer Gesellschaft junge Menschen die Chance haben müssen, Fehler zu machen und daraus lernen zu dürfen. Deshalb ist ein Rausschmiss für mich in dem Fall überhaupt keine Option.

Viele interessieren sich für das Internat als sagenumwobenen Ort, den man aus Bildungsromanen kennt.

Rösner: Auch aus „Harry Potter“. Da gibt es den Schulleiter Dumbledore, der eine sehr positiv besetzte Figur in der Geschichte ist. Viele Schüler, die zu mir kommen, projizieren das, was sie von Dumbledore kennen, auf mich. Das bin ich nicht, aber das ist die Rolle, die man mir zuschreibt.

Der weise Mann, der Rat gibt?

Rösner: Der Gelassene, der immer alles schon irgendwie weiß, obwohl es ihm keiner gesagt hat. Das Vertrauen, das die Schüler in mich haben, ist wirklich beeindruckend. Also fassen wir nochmal zusammen: Was passiert ist, war Scheiße. Aber wenn wir uns jetzt fragen, was wir dazu beitragen können, um die Gesellschaft ein bisschen besser zu machen, dann wäre meinte Antwort, dass wir exemplarisch zeigen können, wie man mit so etwas umgeht. Ich glaube, dass wir vieles richtig gemacht haben. Die Lehrerin ist augenblicklich dazwischen gegangen und hat sofort die Schüler zur Schnecke gemacht. Wir gehen jetzt in die pädagogische Aufbereitung, die Schüler haben eine Strafe erhalten. Sie sehen also, da war eine rote Linie, die hätten sie nicht überschreiten dürfen. Wir gehen jetzt gestärkt in die politische Bildung, in die Demokratieerziehung, wir reden über Dinge wie Empathie. Der Kanzler kann sagen, dass er angeekelt ist – glaubt er denn, dass er damit auch nur einen Schüler besser macht? Ich frage mich: Was kann ich in der Schule tun, um Werte und Haltungen, die für unsere Gesellschaft und unser Grundgesetz fundamental sind, zu fördern? Was kann man tun, um Schüler mitzunehmen und zu sagen „Okay, du bist noch nicht erwachsen, du bist noch ein Jugendlicher. Aber du musst auch verstehen, warum das jetzt wichtig ist“? Da muss am Ende immer eine eigene Einsicht stehen. Wenn ich das nicht schaffe, dann habe ich es vergeigt. Der Auftrag für unser Bildungssystem ist es, Schüler zu begleiten, ohne sie belehren oder zu indoktrinieren. Weil das funktioniert nicht.

Quelle: WELT 30.05.2024, ©️Axel Springer SE

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