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"Das Studium als gefährdete Errungenschaft der EU"- BREXIT Teil 3: Geförderte Studenten der Deutschen Bildung erzählen, wie sie den Brexit erleben

18.07.2016 von Daniel Thorpe, geförderter Student der Deutschen Bildung

Für Daniel Thorpe und sein Umfeld in Edinburgh war der Brexit ein Schock. Der Sozialwissenschaftler bangt um akademische EU-Projekte, ist vor allem aber tief enttäuscht darüber, was mit der Idee der EU geschehen ist. Lies im dritten Teil unserer Brexit-Reihe das aufwühlende und informative Statement eines EU-Fans.

Der Morgen des 24.06.2016 in Edinburgh und die Tage danach

Rückblickend könnte ich Parallelen zur Schulzeit ziehen. Man hatte ein gutes Gefühl nach der Klausur, war dennoch angespannt bei der Rückgabe und den Tränen nahe beim Blick auf die Note.

Das Ergebnis des EU Referendums war für mich und viele in meinem persönlichen Umfeld ein Schock. Man hat mit einem knappen Ausgang gerechnet, sich als Remain-Befürworter jedoch irgendwie in Sicherheit gewähnt. Am Morgen nach dem Referendum trafen sich einige Leute aus meinem Fachgebiet wie gewohnt im Pausenraum zur Teepause. Ich glaube, wir versuchten den Schock irgendwie durch Humor zu verarbeiten. Was anderes blieb uns auch nicht übrig. Natürlich war auch ein wenig Panik zu spüren. Es fühlte sich an wie die Ruhe vor dem eigentlichen Sturm an. Was würde über uns hineinbrechen? Wie konnte es soweit kommen? Und vor allem: Was passiert jetzt mit Schottland?

Während man mit Blick nach London das Gefühl hatte, dass einige Politiker, wie der Premierminister Cameron und selbst der BREXIT-Befürworter Johnson, möglichst schnell über Bord springen wollten, so schien die Regionalregierung in Edinburgh das Ruder an sich zu reißen und zumindest für den nördlichen Teil Großbritanniens sofort sämtliche Rettungsbote ins Visier zu nehmen. Der Schock mischte sich somit langsam mit einem beruhigenden Gefühl. Man war im EU-zugewandten Schottland und musste das Ergebnis nicht in England oder Wales vernehmen, wo es keine Nicola Sturgeon gibt, die als First Minister Schottlands unverzüglich verlauten ließ, dass Schottlands Zukunft irgendwie in der EU liege. Die Gewissheit, dass Schottlands Votum für den Verbleib recht deutlich ausfiel, hatte etwas Beruhigendes. Mehrere Optionen lagen auf dem Tisch: von einem Veto in London, über Sonderbeziehungen mit der EU, bis hin zu einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum schien erst einmal alles drin zu sein. Auch die gescheiterte Petition für ein erneutes Referendum (die binnen Stunden mehrere tausend Unterzeichner hatte) schien anfänglich ein wenig Trost zu spenden. So blieb auch die allgemeine Atmosphäre in Edinburgh überraschend entspannt. Schon am nächsten Tag saßen zahlreiche Menschen bei bestem Wetter in Cafés, und man hatte tatsächlich kurz das Gefühl, dass alles nur ein schlechter Traum war.

In der darauffolgenden Woche schienen wir alle zu realisieren, dass wir vor allem einen kühlen Kopf bewahren und das Beste aus der Situation machen müssen. Das Referendum war selbstverständlich erst einmal für einige Tage das Hauptgesprächsthema in meinem näheren sozialen Umfeld, sprich unter Freunden und in der Uni. Bereits vor dem Referendum wurde bekannt, dass sich vor allem im universitären Umfeld die Mehrheit für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat. Das liegt natürlich auch daran, dass Universitäten in Großbritannien von der EU-Mitgliedschaft profitieren und in EU-Projekte eingebunden sind. Auch einige Wissenschaftler in meinem Fachbereich, den Sozialwissenschaften, forschen direkt oder indirekt zu EU Projekten (u.a. im Umweltbereich).

Würden britische Zeitungen für den 24. Juni und die darauffolgende Woche ihre Online-Zugriffszahlen veröffentlichen, sie wären vermutlich ausnahmslos hoch. Wenn ich mit Freunden oder Kollegen spreche und mich selbst betrachte, so dachten wohl viele in den ersten Tagen nach dem Referendum: Es muss doch Nachrichten geben, die einen hoffen lassen, dass es den Exit vom Brexit gibt? Immer wieder sollte es Hoffnungsschimmer geben: Da war der schottische MEP Alyn Smith, der im EU-Parlament in Brüssel stehenden Beifall bekam, nachdem er klarstellte, dass Schottland sich mehrheitlich für die EU entschieden hatte und von letzterer jetzt nicht im Stich gelassen werden dürfe; Nicola Sturgeon, die sich zeitnah nach Brüssel aufmachte; der Zuspruch vom europäischen Festland und die ersten Artikel, die sich mit Fragen beschäftigten, die man vor dem Referendum vermisst hat: Wie konnte es zu diesem Ergebnis kommen? Wie konnte man überhaupt ein Referendum dieser Art zulassen (einfache Mehrheit etc.)?

Aber warum waren wir alle schockiert?Obwohl das Referendum zunächst keine großen Auswirkungen für unseren (in GB lebende Briten und EU Bürger) Alltag haben dürfte, so standen ich und viele meiner Kommilitonen, Kollegen und Freunde unter Schock. Als ich Freitagmorgen, noch im Bett liegend, die Website des The Guardian aufrief, wollte ich meinen Augen nicht trauen und konsequenterweise auch gar nicht mehr aufstehen. Selten fühlte ich mich so ohnmächtig. Schließlich geht es um viel mehr als persönliche Konsequenzen. Es geht mir vor allem um die Ideen, die hinter einem vereinten Europa stehen und über Jahrzehnte (oder sogar in den letzten Jahrhunderten) stetig gereift sind.

Auf einem viel persönlicheren Level erinnere ich mich an meine Kindheit, als ich mit meinen Eltern und meinem Bruder durch Teile Europas fuhr – nach Belgien, nach Frankreich und nach England. Ich genoss die Nähe und Vertrautheit der Nachbarländer und gleichzeitig individuelle Eigenschaften, die schon auf der Autobahn sichtbar sind und mich als Kind immer wieder begeistern konnten. In Belgien kann man als Kind Stunden damit verbringen die Autobahnbeleuchtung zu zählen (ja, kann man tatsächlich!) und in Großbritannien über den Linksverkehr staunen, während man stets zahlreiche Autos und Lastwagen aus anderen europäischen Ländern sah, und mittlerweile Willkommensschilder mit dem Hinweis, dass man sich in der EU befindet. Ich wurde in die noch junge Gemeinschaft (EWG) hineingeboren und bin in einer sich stetig erweiternden Union aufgewachsen. Als Schüler wurde ich Zeuge, wie nach und nach das Schengener Abkommen in Kraft trat und Grenzkontrollen verschwanden, bevor später noch die Ablösung der Deutschen Mark durch den Euro erfolgte. Aber reicht all das, um nach dem Austrittsvotum Großbritanniens schockierter und emotionaler zu reagieren als ich es mir persönlich hätte ausmalen können.

Die Weltgeschichte kennt unendlich viele Krisen und es gab kein Jahr ohne. Es wäre fatal zu denken, dass noch vor 10 Jahren oder 20 Jahren alles ruhiger war, und dabei Kriege wie den Irakkrieg oder den in Europa stattgefundenen Kosovokrieg zu vergessen. Dennoch hat die erneute und oft hässliche Sichtbarkeit von nationalistischen Zügen in allen Ländern Europas für mich und viele andere einen neuen Schrecken hervorgerufen, der auch eine weitere bzw. veränderte persönliche Verantwortung mit sich bringt.

Ich war immer von weltweiten föderalistischen Gebilden oder Bewegungen angetan. Wenn man sich mit der weit zurückreichenden Geschichte der EU befasst, hat man das beklemmende Gefühl, dass einige Denker und Politiker aus der fernen und näheren Vergangenheit in dieser Hinsicht schon einmal weiter waren. Die EU hat ihre Probleme, aber die EU war für mich vielleicht immer eine beinahe wahr gewordene Utopie mit Schönheitsmakeln, eine politische und ideelle Gemeinschaft, die schrittweise auf den Ruinen des 1. und 2. Weltkrieges aufgebaut wurde – Kriege, die vor nur wenigen Jahrzehnten stattfanden und somit auch für meine und nachfolgende Generationen noch immer eine eindringliche Mahnung darstellen sollten. Vielleicht hat die EU vielen Menschen der Nachkriegsgenerationen das Gefühl oder wenigstens die Illusion gegeben, irgendwie in einer friedlichen und in vielerlei Hinsicht (u.a. wirtschaftlich-, sicherheitstechnisch- und kulturell-) kooperierenden Welt zu leben. So kommen auch meine Eltern aus unterschiedlichen Teilen Europas, und wenn ich meine Gefühle nach dem Referendum in einem Satz benennen müsste: Für mich persönlich ist ein kleiner, aber dennoch bedeutender Teil meiner Kindheit weggebrochen. Wie kann man bei lösbaren Schwierigkeiten aus einer Gemeinschaft austreten und die Errungenschaften (zum Beispiel im Bereich der Umweltpolitik) der letzten Jahrzehnte gefährden?

Man muss und kann die EU vielleicht gar nicht bis ins letzte Detail verstehen, denn was die Transparenz angeht liegt noch viel im Argen. Gleichzeitig wäre es von EU-Seite auch verheerend anzunehmen, dass die Bürger einfach keine Ahnung haben und sich mit der EU nicht beschäftigen. Ich hatte immer das Gefühl, dass die EU für jeden ein Stück weit etwas anderes bedeutet. Kaum jemand, der oder die nicht direkt involviert ist, scheint genau erklären zu können, was in Brüssel, Straßburg, Luxemburg und Frankfurt vor sich geht. Nicht einmal meine Lehrer in der Schule schienen uns die EU mit Begeisterung näher bringen zu können oder zu wollen. Ich rede mir ein, dass sonst mehr hängen geblieben wäre. Den Bundestag verstand man schon eher, und auch die Flagge der Bundesrepublik, der Union Jack oder die Trikolore Frankreichs waren letztendlich doch immer irgendwie präsenter als die EU Flagge. Von meiner persönlichen Einstellung und Euphorie für die EU losgelöst, war ich umso erstaunter, welche Welle des Schocks der Austritt in weiten Teilen Europas zu entfachen schien und ein neues Gemeinschaftsgefühl entstehen ließ. Nur wenige Tage nach dem Referendum fand ich mich selbst mit hunderten Personen vor dem schottischen Parlament wieder. In der Hand hielt ich eine ausgedruckte EU-Flagge und protestierte für den Verbleib in der EU. Nie zuvor habe ich so viele EU Flaggen gesehen. Es steht viel auf dem Spiel…

Stimmung unter Studenten

Eine der gefährdeten Errungenschaft der letzten Jahrzehnte ist das Studium innerhalb der EU. So zahlen EU-Staatsbürger in Großbritannien für das Graduiertenstudium die gleichen (niedrigeren) Studiengebühren wie britische Staatsbürger und können sich auch auf viele Stipendien in Großbritannien bewerben. Zudem benötigt man kein Visum, kann sich über die NHS krankenversichern lassen und am Ende sogar über den Status Schottlands im Vereinigten Königreich entscheiden (wie es beim Referendum in 2014 der Fall war). Viele EU-Studenten machen sich Sorgen, dass all das nun der Vergangenheit angehört, und man sentimental daran zurückdenken muss wie zukunftsgewandt und unproblematisch doch alles einmal war. Die Universitäten versuchen aber mittels Rundschreiben und FAQ-Rubriken im Internet die Gemüter zu beruhigen. Für Studenten, die momentan eingeschrieben sind oder zeitnah ihr Studium beginnen wird sich nichts ändern. Doch es gibt Sorgen, die einem auch die Uni nicht nehmen kann. Einige Wissenschaftler und Studenten fragen sich was für Auswirkungen das Referendum auf bereits geschmiedete familiäre Pläne haben könnte. Wie zum Beispiel sieht es mit Partnern aus, die noch nachziehen und sich hier auf einen Job oder ein Studium bewerben wollen? Klare Aussagen kann London dahingehend momentan nicht tätigen.

Was bleibt an persönlichen Erkenntnissen?So sehr viele Remain-Befürworter vor allem frustriert zu sein scheinen, so sehr ist man aber auch bereit sich etwaigen Konsequenzen zu fügen, für eine bessere Zukunft zu kämpfen, und letztendlich auch die Schuld für die Niederlage bei sich zu suchen. Das Referendum war ein Weckruf in vielerlei Hinsicht. Man hat geschlafen, man hat Probleme ignoriert und lange nicht erkannt, wie viel auf allen Seiten im Argen liegt, und wie unangemessen letztendlich untereinander kommuniziert wurde. Es wird derzeit viel darüber debattiert, wie man die sichtbar gewordenen Spaltungen in der britischen Gesellschaft wieder heilen kann. In diesem Zusammenhang ist es auch nicht einfach zu beantworten, warum so viele Menschen sich am Ende doch für einen BREXIT ausgesprochen haben. Es ist letztendlich eine sehr komplexe Angelegenheit mit unendlich vielen Faktoren, die mit unterschiedlicher Qualität in individuelle Entscheidungen reinspielen. Es gibt viele Vermutungen, wie zum Beispiel hinsichtlich des Klassendenkens, oder dass Londons Zentralismus in vielen Gegenden das Gefühl hinterlassen haben könnte, abgehängt zu sein und nicht gehört zu werden, was somit zu Protestwahlen geführt hat. Gleichzeitig spielt natürlich auch Patriotismus (in seinen vielen Formen) in allen Ländern der Welt eine gewichtige Rolle. Nicht immer werden die einzelnen Faktoren miteinander logisch in Einklang zu bringen sein, und ich vermute, dass einige Wähler letztendlich auch aus dem Bauch heraus entschieden haben.

In den Medien mangelt es jedenfalls nicht an Artikeln, die auf dem Referendum basierend unsere Vorstellungen von (direkter) Demokratie hinterfragen und Denkanstöße liefern wollen. So hat sich zum Beispiel unter dem Titel „Power to the People?“die Historikerin Mary Beard in The Times Literary Supplement an das antike Athen herangewagt und mit der Frage beschäftigt, wie es um das Lernen von Partizipation in einer Demokratie steht. Unabhängig davon, wäre es fatal, die meisten Wähler als uninformiert darzustellen. Doch irgendwie hatte man nach dem Referendum das Gefühl, dass das nicht die Demokratie ist, die man sich vielleicht immer abstrakt ausgemalt hat. Selten hatte man das Gefühl, dass eine so wichtige Entscheidung auf so wenigen fundierten Informationen getroffen wurde (was unabhängig vom Ergebnis zu sehen ist). Diesen Mangel auf Großbritannien zu beschränken wäre aber vermutlich ein Fehler. Am Ende war Brüssel in der Wahlkabine vielleicht häufig London und umgekehrt, und auch ein Hinweis darauf, dass Föderalismus und Union auch in einem scheinbar geeinten Europa noch leere Begriffe bleiben – die von allen Seiten aktiv mit Bedeutung versehen werden sollten. 

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