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Umzug nach Leipzig wegen Bärenherz: Sachsens einziges Kinderhospiz ist große Entlastung für Familie Hawranke
„Du weißt, dass du ein Kind mit Behinderung hast: … wenn du im Ordner ‚Krankenhausberichte‘ eine Unterteilung nach Organen anlegst, um den Überblick zu behalten; … wenn du den Zugangscode für die Eingangstür der Kinderklinik kennst; … wenn du als medizinischer Laie einen Blasendauerkatheter legen kannst; … wenn du im Handy diverse Direktdurchwahlen von Krankenhausärzt*innen gespeichert hast; … wenn du Sachen zusammenpackst für sechs Tage im Kinderhospiz und nach 1,5 Stunden Plackerei sagst ‚so, jetzt bin ich fast fertig. Fehlen nur noch die Anziehsachen!‘; … wenn für dich trotz Corona-Quarantäne-Zeiten erhöhte Händehygiene und das Tragen eines Mundschutzes nichts Neues sind; … wenn du es dir abgewöhnt hast, das Leben zu planen und dich einfach vom heutigen Tag überraschen lässt.“
Das sind Auszüge aus Anne Hawrankes Blog „Das bewegte Leben“. Dort schreibt sie über den Alltag mit einem schwer mehrfach-behinderten, chronisch kranken Kind. Ihrem Kind: der zwölfjährigen Judith.
Nachdem die Familie – zu Anne und Judith gehört noch Vater Sebastian – jahrelang keinen richtigen Namen, sondern nur eine ellenlange Buchstaben- und Zahlenkombination als Bezeichnung für die Krankheit ihrer Tochter hatte, weiß sie heute, ein paar Jahre und unzählige Arzt- und Krankenhaustermine später: Judith hat eine Trisomie XQ 28.
Judith ist eine tiefsinnige, entspannte junge Dame, die das Leben nimmt, wie es kommt. Sie hat schon einiges durch im Leben, konnte dadurch weise und sehr lebenserfahren werden. „Sag mir ein Organ und ich sag dir, was sie da hat“, erklärt Anne Hawranke, wie weit Judiths Symptome reichen: „So ziemlich an jedem Organ ist irgendwas, mal mehr, mal weniger dramatisch.“ Ihr Hauptproblem ist die Muskelhypotonie, also „schlappe Muskeln“. Judith fehlt einfach die Kraft. Sie konnte schon mal sitzen, robben und mit Unterstützung stehen, mittlerweile gehen jedoch durch zunehmendes Körpergewicht diese Fähigkeiten nach und nach verloren. Die Hypotonie wirkt sich auch auf die inneren Organe aus, besonders auf die Lunge. Judith atmet oft zu flach. Dadurch werden nicht immer alle Bereiche gut belüftet und sie hat sehr häufig Lungeninfekte. Im Schlaf atmet sie auch nicht ausreichend, so dass sie in der Nacht monitorüberwacht wird und eine maschinelle Atemhilfe sowie manchmal Sauerstoffbedarf hat. Weiterhin hat Judith eine geistige Behinderung und kann nicht sprechen. „Das klingt vielleicht auf den ersten Blick alles schrecklich, furchtbar und nach ganz wenig Lebensqualität, ist es aber für uns nicht“, betont Anne Hawranke. „Judith entwickelt sich, nur eben viel langsamer. Und mittlerweile haben wir für die meisten Probleme gute Strategien und sie gehören eben einfach zu unserem Leben dazu.“
Judith zählt zur Hochrisikogruppe
Nun, seit Ausbruch von Covid-19, ist Familie Hawranke natürlich ganz besonders in Hab-Acht-Stellung. Die Corona-Pandemie hat enorme Auswirkungen auf den Alltag von Judith und ihrer Familie, denn Judith zählt aufgrund ihrer Imunschwäche zur Hochrisikogruppe. Zudem kann ihr Lungenhochdruck bei einer Corona-Infektion schnell zu einem ernsten Problem werden. Das führt sie leider auch oft ins Krankenhaus. „Sie ist unheimlich zäh und hat schon sehr viel überstanden: mehrmalige Sepsen, zweimal ein Lungenversagen, unzählige Lungenentzündungen“, erklärt Anne Hawranke. „Daher sind wir bei kleinsten Infekt-
anzeichen auch schnell mal nervös.“ Eine Erkrankung an Covid-19 wäre für Judith mindestens mit Krankenhausaufenthalt und Intubation verbunden. Aktuell geht sie praktisch gar nicht mehr unter Leute, kann ihre Freunde nur im Videochat treffen und nicht am Kindergottesdienst teilnehmen. Therapeut*innen und Pflegedienst dürfen selbstverständlich nur unter Einhaltung strenger Hygienemaßnahmen zu ihr nach Hause. Weil sie jedoch auch dringend Anregungen braucht, haben sich ihre Elten nach einigem Abwägen dazu entschlossen, sie wieder zur Schule zu schicken. Das Risiko ist überschaubar, da hier fast alle Kinder zur Risikogruppe gehören und dementsprechend umfassende Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden.
Dankbar für eine kleine Pause
Judith kommt regelmäßig ins Kinderhospiz Bärenherz, um „eine Auszeit von ihren Eltern zu bekommen“, sagt ihre Mutter scherzhaft. „Das Kinderhospiz Bärenherz ist ein Ort, an dem Judith auch mal alleine sein kann; wo sie erleben kann, dass sie autonom ist. Immerhin ist sie inzwischen eine junge Frau, die auch ihre Freiräume von Mama und Papa braucht.“ Am Anfang fiel es den Eltern schwer, sich von Judith zu trennen, aber sie haben schnell viel Vertrauen zu den Mitarbeiter*innen im Bärenherz aufgebaut und wissen, dass sie ihre Tochter ganz beruhigt für ein paar Tage oder Wochen in die Obhut geben können. Zwar wurde Anne Hawranke schon mal mit den Worten „Mama, jetzt geh doch endlich!“ hinauskomplimentiert, als sie ihre Tochter vorübergehend ins Kinderhospiz Bärenherz brachte, aber die Eltern sind ebenfalls dankbar für eine kleine Pause vom Alltag.
„Wir sind sogar wegen Bärenherz nach Leipzig gezogen“, erklärt Anne Hawranke, wie wichtig die Unterstützung durch das Kinderhospiz für die Familie ist. „Als Judiths Beschwerden immer komplexer wurden, haben wir eingesehen, dass es direkt vor Ort für uns einfach praktischer ist.“ Natürlich war Leipzig auch darüber hinaus attraktiv für Mutter und Vater, die schnell Arbeit in der Messestadt fanden und vor sieben Jahren den Umzug in die Nähe des Kinderhospizes wagten. „Bärenherz ist für uns vor allem ein Ort, an dem die Komplexität der chronischen Krankheit anerkannt und Judith im Ganzen gesehen wird. Die Mitarbeiter*innen betrachten die Gesamtsituation und verstehen genau, was es für Judith bedeutet, mit ihrer Behinderung zu leben.“
Entlastung für die ganze Familie
Und so kommt Judith schon seit vielen Jahren immer wieder für einige Zeit ins Kinderhospiz Bärenherz, was für die gesamte Familie eine Entlastung vom Alltag mit all seinen Herausforderungen ist. Frisch erholt können Mama, Papa und Judith anschließend wieder die zahlreichen Aufgaben, die Judiths Krankheit mit sich bringt, mit neuer Energie und neuer Kraft zu Hause bewältigen. Auf den geplanten Aufenthalt im Mai hatten sich schon alle gefreut. Doch Corona funkte dazwischen: Für die immunschwache Judith war es besser, erst einmal zu Hause zu bleiben und soziale Kontakte zu vermeiden.
„Wir sehen all das Schöne, das wir mit Judith erleben.“
„Natürlich nervt die Behinderung oder das, was ihre Krankheiten mit sich bringen, manchmal. Darauf hätten wir gerne verzichtet. Ehrlich!“, gesteht die Mutter. „Judith gibt es aber nur im Gesamtpaket, da gehören die schweren Dinge auch mit dazu. Und wir sehen all das Schöne, das wir mit Judith erleben.“
Doch Judith ist nicht ihre Diagnose! Sie ist eine ganz normale Zwölfjährige – aufgeweckt, neugierig und auf ihre Art sehr kommunikativ. Und dennoch ist sie irgendwie ein außergewöhnlicher Teenie: Sie interessiert sich für Umweltschutz, die politische Lage und die DDR-Geschichte. Sie mag klassische Musik und Theater. Sie hat Freude an Bildung. Anne Hawranke: „Judith ist einfach mein Kind. Und neben vielen Eigenschaften ist eben eine, dass sie eine Behinderung hat.“ Für die Eltern steht fest: „Judith ist ein Unikat. Einzigartig und wunderbar gemacht und genau richtig, wie sie ist.“
In ihrem Blog beleuchtet Anne Hawranke die ganz praktischen Seiten im Leben mit ihrer behinderten Tochter Judith: www.dasbewegteleben.wordpress.com