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Vom Hunger zur Fettleibigkeit: Die Formen der Mangelernährung als Herausforderung

In den vergangenen Jahrzehnten verringerte sich die Zahl der an Hunger leidenden Menschen deutlich. Von 1990/92 bis 2014/16 hat sich der Anteil unterernährter Menschen in Entwicklungsländern fast halbiert. Zur selben Zeit breiteten sich Krankheiten aus, die mit anderen Formen der Fehlernährung zusammenhängen, wie der Mangel an Spurenelementen und die Fettleibigkeit aufgrund von Überkonsum.

Dieser Trend führt zu nichts weniger als zu einer “Epidemie” ernährungsbedingter nichtansteckender Krankheiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-Problemen. Laut Daten von Weltgesundheitsorganisation und Internationaler Diabetesstiftung ist einer von drei Erwachsenen weltweit übergewichtig, und einer von elf Menschen über 18 leidet an der Zuckerkrankheit. In Deutschland sind fast zwei Drittel aller Erwachsenen übergewichtig, mehr als einer von fünf wird als fettleibig angesehen, einer von neun ist an Diabetes erkrankt. Zur selben Zeit leiden – selbst in einem hochentwickelten Land wie Deutschland – 1,5 Millionen Menschen an Unterernährung. Fehlernährung existiert in vielen Formen, und beide Extreme – Hunger und Fettleibigkeit – sind in jedem Land weit verbreitet.


Ein neuer internationaler Ansatz

Mitgliedsländer der Vereinten Nationen haben – als Teil ihrer Agenda 2030 – die vielfältigen Herausforderungen erkannt, die Fehlernährung mit sich bringt. Das Nachhaltige Entwicklungsziel Nummer 2 (Sustainable Development Goal 2, SDG 2) ruft die Staaten dazu auf, Hunger und alle Formen der Fehlernährung bis 2030 zu beenden. Wie bei der gesamten Agenda 2030 sind hier alle aufgefordert, Maßnahmen innerhalb ihrer eigenen Grenzen zu ergreifen und international zusammenzuarbeiten, um die Ursachen für Hunger und Fehlernährung überall zu bekämpfen.

SDG 2 baut auf den Ergebnissen der Internationalen Ernährungskonferenz 2014 auf. Ihnen zufolgen müssen alle Formen von Fehlernährung durch schlüssige und umfassende Maßnahmen angegangen werden, damit alle Menschen in jedem Lebensabschnitt Zugang zu angemessener, gesunder Ernährung haben. Diese Prinzipien gingen in die Römische Erklärung zur Ernährung ein, die das Ziel ins Auge fasst, ein integriertes, nachhaltiges und gesundes Ernährungssystem zu schaffen. Zu den Einzelzielen gehören:

  • die Einbeziehung ernährungsbezogener Fragen in die Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik und die Weiterentwicklung einer ernährungssensiblen Landwirtschaft,
  • die Förderung der Diversifikation von Agrargütern einschließlich zu selten angebauter lokaler Saaten,
  • die schrittweise Reduzierung des Anteils gesättigter Fette sowie von Zucker, Salz/Natrium und Transfetten in Speisen und Getränken,
  • die Einführung von Erziehungsmaßnahmen zur richtigen Ernährung und Informationsvermittlung und die Förderung der Fähigkeiten und Kapazitäten von Erziehern in Schulen, dem Sozialsystem, in landwirtschaftlichen Betrieben und in der Gesundheitsforschung,
  • die Sensibilisierung nationaler Gesundheitssysteme für Fehlernährung aller Art.

2015, während der Weltausstellung in Mailand, verabschiedeten Bürgermeister aus 133 Städten aus der ganzen Welt das Mailänder Abkommen zur Städtischen Ernährungspolitik, das viele dieser Ziele in Maßnahmen auf städtischer Ebene übersetzt. Das Abkommen erkennt an, dass die meisten fehlernährten Menschen in Städten leben und dass die diesbezügliche Politik auch Umweltaspekte berücksichtigen muss, einschließlich der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung an ihnl. Die Bürgermeister einigten sich zum Beispiel darauf,

  • nachhaltige Ernährungsplanungen zu fördern, die gesund, sicher, kulturell angemessen, umweltfreundlich und grundrechtebasiert sind,
  • zu gemeinsamen Aktionen von Gesundheits- und Ernährungssektor aufzurufen,
  • die Nahrungsmittelproduktion in Städten und ihren Umländern zu fördern und bei der Nahrungsmittelproduktion einen Ausgleich zwischen Stadt und Land zu suchen,
  • alle Akteure der Nahrungsmittelkette zusammenzubringen, um Nahrungsmittelverluste verringern.

Um den Druck auf die Umsetzung der Römischen Erklärung, des Mailänder Abkommens zur Städtischen Ernährungspolitik und ähnlicher Initiativen zu erhöhen haben die UN die “Dekade für Ernährung 2016 bis 2025” ausgerufen. Die Initiative will eine "gesellschaftsübergreifende Bewegung" schaffen, die "zu einem Wandel in nationaler Politik führt und letztendlich zum Ende aller Formen von Fehlernährung". Die Initiative fördert Wissenschaft und Datensammlung im Hinblick auf Ernährung, um faktenbasierte Argumente zu stärken. Zugleich schafft sie Plattformen wie Konferenzen, Gipfeltreffen und Foren, um den Dialog und den Austausch von Informationen zu fördern, und Haftungsmechanismen, um die Effizienz von Vereinbarungen und Interventionen zu beobachten.


Was sollten wir tun?

Alle Formen von Fehlernährung zu beenden ist zweifellos eine gewaltige Herausforderung, zu der alle Teile der Gesellschaft beitragen sollten. Einige der oben angesprochenen Empfehlungen wurden bereits von vielen Ländern in die Praxis umgesetzt; nur einige wenige Staaten berücksichtigen allerdings alle Empfehlungen und stellen den Menschen in den Mittelpunkt des Nahrungssystems.

Unserer Meinung nach muss in diesen drei Kernbereichen gehandelt werden:

1. Wir brauchen eine Strategie, die Eigendynamik auf gesellschaftlicher Ebene zu fördern. Wir benötigen eine integrierte Plattform oder Institution, die alle Akteure des Ernährungssystems zusammenbringt, ob Erzeuger, Produzentenverbände, Nahrungsmittelindustrie, Händler oder Verbraucher. Ziel ist eine Diskussion, wie das Ernährungssystem so umgebaut werden kann, dass es allen Menschen nachhaltige, gesunde Ernährungsoptionen bietet.

2. Wir sollten ebenfalls damit beginnen, an einem völlig neuen Ansatz zur Ernährungserziehung zu arbeiten, der über das reine Vermitteln von Informationen hinausgeht; Verbraucher benötigen sowohl Wissen als auch Fähigkeiten, wenn sie aktive Teilnehmer des Ernährungssystems sein wollen. Sie sollten die Möglichkeit haben, aus erster Hand alle Ebenen der Nahrungsmittelproduktion kennenzulernen, damit sie deren Einflüsse aus umwelt- und sozioökonomischer Sicht verstehen lernen.

3. Wir sollten sicherstellen, dass alle Bürger die Chance bekommen wiederzuentdecken, dass die sorgfältige Auswahl und Zubereitung von Mahlzeiten eine erfüllende und gesellschaftlich wertvolle Aktivität ist. Wenn es wahr ist, dass “wir sind, was wir essen”, sollten wir jedem helfen, Ernährung als unverzichtbaren Bestandteil der eigenen Identität wahrzunehmen.

Zur Person: Stefan Jungcurt forscht und schreibt zur Wissenschaft, Politik und Praxis globaler Umweltentscheidungen. Er arbeitet als Experte für Biodiversität, Landwirtschaft und Ernährungssicherheit für den SDG Knowledge Hub, das Earth Negotiations Bulletin und andere Projekte des International Institute for Sustainable Development (IISD). Er ist zudem als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Council of Canadian Academies tätig, ein unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium in Kanada. Jungcurt hat an der Humboldt-Universität zu Berlin in Agrarwissenschaften promoviert. Er lebt in Ottawa.

Der Artikel erscheint als #themenboost #sustainablefood, einer Fokuswoche von Nimirum. Alle Informationen dazu gibt es hier.

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