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Vegetarier zwischen Individualismus und Markt: Endet die Sinnsuche am Tellerrand?

Wenige Lifestyle-Trends hatten so durchschlagenden Erfolg wie der Veggie-Boom der letzten Jahre: Im Monatstakt eröffnen neue vegetarisch-vegane Restaurants in jeder größeren Stadt, und die Kaufhausregale für vegetarische Produktlinien werden immer länger. Warum hat sich die fleischlose Ernährung von einer Protestbewegung zu einer massentauglichen Vermarktungsstrategie entwickelt?

Industrialisierung

Während im Europa vor der industriellen Revolution das Fleischessen etwas Besonderes war und mit Feiertagen zu tun hatte, hat sich  der durchschnittliche Fleischkonsum in Deutschland seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verdoppelt. Rasch schossen in der westlichen Welt Tierfabriken aus dem Boden, die Fleischproduktion wurde erheblich billiger, und industrielle Tierhaltung war bald so selbstverständlich wie der Schinken am Frühstückstisch. In den USA wuchs die Wirtschaft ab den 1940er Jahren dank Roosevelts New Deal rasant. Der tägliche Fleischkonsum gehörte bald ebenso zum amerikanischen Mittelstandsprestige wie Autos, Eigenheime und Farbfernseher.

Die Industrialisierung hat jedoch in den letzten Jahren auch den entgegengesetzten Trend möglich gemacht. Auch pflanzliche Ernährungsweisen wurden durch die Industrialisierung von Landwirtschaft und Nahrungsproduktion erheblich massenkompatibler. So sank denn auch schon 2007 der durchschnittliche Fleischkonsum in Deutschland wieder auf 61kg, während er in den 1990er Jahren bei noch etwa 65kg lag.

Individualisierung

Zu den Grundbedingungen der vegetarischen Ernährung gehört der Diskurs über die Haltung von Tieren. Mit Beginn der 1970er Jahre begannen Philosophen (m/w) unterschiedlicher Denkrichtungen, sich Gedanken über Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen und Tieren zu machen, auch über Tierrechte und über die Frage, ob es denn rechtens sei, Tiere einzusperren und zu töten, um aus ihnen Nahrung zu gewinnen. Richtungweisend war in dieser Hinsicht Peter Singers Werk Animal Liberation aus dem Jahr 1975.

Der philosophische Tierrechtsdiskurs differenzierte sich in den 1980er Jahren aus. Er fand im neuen Jahrtausend Eingang in den populärwissenschaftlich-journalistischen Kanon mit Büchern wie Michael Pollans The Omnivores Dilemma oder Tiere Essen von Jonathan Safran Foer, die ihn einem breiten Publikum vorstellen.

Eine weitere Vorraussetzung für Vegetarismus als Lifestyle-Option ist die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft. Traditionelle Gemeinschaftsgruppen wie Stände oder Schichten werden zunehmend durch individualisierte Existenzformen ersetzt. Auch die vegetarische Ernährung ist zunächst eine Abkehr von einer gesamtgesellschaftlichen Norm und damit nicht nur eine Frage der Ernährung. Oft ändert sich der gesamte Lebensstil gleich mit. So sagen viele, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, dass sie gleichzeitig vermehrt auf regionale oder biologisch angebaute Produkte achten. Auch ein Einstieg in eine Subkultur oder die Tierrechtsbewegung kann mit der Umstellung der Ernährung einhergehen.

Mainstream?

Trotz Individualismus und philosophischer Diskurse ist die vegetarische Ernährung jedoch längst nicht nur radikalen Tierrechtlern (m/w) am Rand der Gesellschaft vorbehalten. 

Bereits in den frühen 1990er Jahren wurde der Anteil der vegetarisch lebenden Menschen in Großbritannien auf immerhin 3,5 Prozent geschätzt. 2012 waren es in Deutschland mit acht Millionen Vegetariern bereits 10 Prozent der Bevölkerung.

Vegetarische Ernährung ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen, das haben auch Unternehmen und Werbeagenturen erkannt. Während mit Kampagnen wie  Fleisch bringt's noch versucht wurde, Fleisch als besonders gesund zu vermarkten, haben einige Unternehmen bereits recht früh ihre Produktpalette um vegetarische Alternativen erweitert. Eine vegetarische Produktreihe der Supermarktkette Spar wurde explizit auch für nicht vegetarisch lebende Menschen beworben.

Für viele Vegetarier bildet sich daraus auch ein Spannungsverhältnis, da ihre individualistische und nonkonforme Ernährung immer stärker auch als Trend in die kapitalistische Marktlogik eingegliedert wird. Mit dieser Vermarktung vegetarischer Produkte rücken dann auch unterschiedliche Motive für eine pflanzliche Ernährung in den Vordergrund

Verschiedene Motive vegetarischer Ernährung

Ökologische Themen spielen im Diskurs um vegetarische Ernährungsformen eine große Rolle: Das Wissen darum, wie viel Wasser und Futter für die Produktion von einem Kilo Fleisch verbraucht werden und wie viel CO2 bei der Aufzucht von Nutztieren ausgestoßen wird, veranlasst auch viele Menschen, die sich nicht als Tierrechtler bezeichnen würden, ihren Fleischkonsum zumindest einzuschränken.

Ebenfalls von Bedeutung ist die Debatte um den gesundheitsschützenden Wert vegetarischer Ernährung: Regelmäßig klären Pressemeldungen und Fernsehbeiträge über Ernährungsstudien darüber auf, dass ein fleischarmer Lebensstil ein Schlüsselfaktor bei der Vermeidung von Zivilisationskrankheiten bei gleichzeitiger Steigerung des individuellen Wohlbefindens ist.

Zusätzlich spielt auch die zunehmende Verbreitung von New-Age-Spiritualität und der damit verbundene Wunsch nach Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung in aktuelle Ernährungstrends hinein – wie beispielsweise bei alternativmedizinischen Ansätzen oder durch die Adaptierung buddhistischer oder hinduistischer Lebenspraktiken.

Ein Ausblick in Sachen vegetarischer Ernährung

Wir müssen nicht am Esstisch die Frage nach dem guten Leben endgültig beantworten. Trotzdem wird heute durch unsere Essgewohnheiten eine Vielfalt an ethisch beladenen Themen mitverhandelt, die auch unser Selbstverständnis mitprägen.

Die Fülle an neuen Lebens- und Ernährungsmöglichkeiten hat den Markt in den vergangenen Jahren herausgefordert, ihm aber auch die Möglichkeit gegeben, sein Angebot zu revolutionieren. Für den Handel ist es nun entscheidend zu zeigen, dass die Konsumentinnen und Konsumenten in den angebotenen Produkten das für sie sinnstiftende Element auch wahrnehmen können, und dass verschiedene Beweggründe für eine vegetarische oder vegane Ernährung durch eine große Produktvielfalt abgedeckt werden. 

Zur Person: Christoph Wittmayer schloss sein Soziologiestudium an der Karl-Franzens-Universität Graz mit einer Masterarbeit über Vegetarismus und Lebensstil ab.

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