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Geld, Macht, Tore: Briefing zur EM 2016

Fußball ist nur ein Spiel. Den Satz hört man oft, wenn der unschuldige Sport beschützt werden soll vor politischen oder wirtschaftlichen Interessen. Ja, man kann dieses Spiel so sehen und einen größeren Teil der Realität dabei ausblenden. Schon Kinder wissen heute, dass es oberhalb einer gewissen Liga kein unschuldiges Spiel mehr gibt. Der beliebteste Sport der Welt ist, von namenlosen Kreisligen bis zu internationalen Wettbewerben, schon lange ein Milliarden-Geschäft – und leider auch oft schon ein Politikum gewesen.

Und während jetzt wieder (fast) alle mit den Gladiatoren von heute mitfiebern, barg diese EM in einem tief zerstrittenen Europa ein Konfliktpotenzial wie selten eine zuvor. War der 2016 schon höher als sonst politisierte Eurovision Song Contest, mit seinem ukrainisch-russischen Duell noch internationales Wettsingen auf Bezirksliga-Niveau, ist dies eine weitaus härteren Liga, von den Fan-Gesängen über die Leistungen der Hauptdarsteller bis zu den Milliarden, die dabei zusehen und die heute  damit gemacht werden.

"Fußballkampf" nannten das die Kommentatoren noch in den 1950-Jahren. Und leider kann der in gewittrigen politischen Großwetterlagen noch heute, sogar auf dem Platz zum "Fußballkrieg" werden. Denn die Spiele werden von vielen Menschen noch immer als nationale Leistungsschau gesehen – was dem Sport und vielen in seinem Umfeld aktiven Unternehmen nicht immer gut tut. Das Image eines Landes wird vom Auftreten seiner Nationalelf in nicht geringem Maß geprägt; und in Zeiten einer Renaissance nationaler Identifikationsmuster geht es dabei auch um die Selbstvergewisserung ganzer Länder – wie um deren Vorurteile gegenüber anderen.

Fußball und Wirtschaft

Schon über das Geschäft mit Fußball kann man reden wie über jede Branche mit vielen Konsumenten. Etwa so, dass die Umsätze im europäischen Fußball in zehn Jahren von 13,6 auf 20 Milliarden Euro gestiegen sind, dass Fußball ein globaler Wachstumsmarkt ist. Immer wieder wird über Fußball in China geredet, über hoch fliegende Pläne auch für eine WM in Chinaund darüber, wie das Land schon etablierte Fußball-Märkte erreicht. Auch Indien ist ein Thema – die USA sind eines, das uns erklärt, warum und wie sich etwa Bayern München, der Mercedes-Benz des deutschen Fußballs (von mir aus auch BMW) in den USA derart engagiert.

Es geht um die Ökonomie des Spitzensports in einer globalisierten Welt, weil viele Menschen etwas wollen und deshalb  viel Geld dafür ausgeben – für Tickets und TV, Catering und Merchandising. Und viele Menschen wollen Fußball! Darum konkurrieren im Sponsoring Sportartikel-Hersteller um die besten Mannschaften, die Fernsehsender um die besten Plätze und Rechte und viele andere um ein Stück vom Blick auf den Rasen. Und natürlich sind wissenschaftliche und wirtschaftliche Expertise in diesem Feld auch kein ganz neues Thema mehr.

Bei einem so großen Interesse an diesem Spiel versuchen selbstredend viele, damit den Rubel rollen zu lassen, teilweise mit fragwürdigen Verknüpfungen. Man darf schon fragen, ob es dem Medienhaus Burda wirklich etwas bringt, seine Partnerschaft mit der Telefónica bei der neuen Streaming-App "TV Spielfilm Live" unbedingt "pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft in Frankreich" zu starten oder ob Ferreros Kinderriegel mit Migrationshintergrund dem Konzern nun eher genützt hat als geschadet.

Nicht jeder Shitstorm muss sich schließlich für ein Unternehmen negativ auswirken. Bestenfalls bringt er Aufmerksamkeit und für Ferrero vielleicht einige Käufer weniger aus dem einen Lager, vielleicht aber einige mehr aus dem anderen. Tatsächlich waren hier auch Stimmen zu hören wie: "Da krieg ich doch gleich wieder Lust auf Kinderschokolade!" Das laue Statement des international agierenden Konzerns zu nationalen Befindlichkeiten wegen dunkelhäutiger Kinder auf einem Schoko-Riegel war da schon fast überflüssig-kontraproduktiv – womit wir nun endgültig bei der Politik wären...

Fußball und Politik und Wirtschaft

Bei dieser EM ging es für die "Welt am Sonntag" um nicht weniger als "die Verteidigung der Freiheit gegen den Terror". Wobei mit der Verteidigung freien Sports gegen Terroranschläge derselbe wohl wirklich überfordert wäre. Das scheint mir eine Sache des Veranstalters zu sein – und der Hoffnung, alles möge weiter gut gehen. Weder unter sportlichen und wirtschaftlichen, noch unter politischen Aspekten ist das im Vorfeld sinnvoll zu besprechen.

Wichtig ist jetzt auf dem Platz und wichtig das, was die Menschen da wahrnehmen: Nationalismen sublimieren in der Anschauung des Sports im internationalen Wettkampf. Das ist etwa seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg so und am stärksten heute im populärsten Sport unserer Zeit. Deshalb ist das Fußballfeld auch ein Fever Pitch des politischen Populismus, Projektionsfläche für Nationalgefühle aller Art, für Ressentiments und Vorurteile, positive wie negative.

Deshalb auch störte es manche, dass Typen wie Boateng nicht nur auf der urdeutschen Kinderschokolade auftauchten. Vor allem störte es, dass sie Deutschland repräsentieren, auf der größten Bühne der Welt – 105 mal 68 Meter laut UEFA-Norm, zu sehen in Milliarden Haushalten. Vielleicht irrte AfD-Vize Gauland ja öffentlich absichtlich, als er erklärte, Profi-Fußball sei "keine Frage der nationalen Identität mehr", nur mehr "eine Geldfrage" und die Nationalelf "nicht das passende Symbol" für Deutschland. Für den internationalen Vereinsfußball mag er da ja Recht haben. Doch Nationalspieler wie den Mekka-Pilger Mesut Özil und die Berliner Pflanze Boateng hat der DFB nicht im Ausland gekauft, sie sind Deutsche.

Richtiger könnte da AfD-Chefin Petry mit ihrer Spekulation gelegen haben, dass Özil "eine politische Aussage treffen wollte". Nun ja, ohne Rückfrage mit den Verantwortlichen für die DFB-Öffentlichkeitsarbeit hat er sein Selfie vor der Kaaba ganz sicher nicht gepostet. Besser beraten wäre die AfD aber, wie übrigens alle Politiker vermutlich auch in ihrem eigenen Interesse, wenn sie beim Thema Fußball in diesen Wochen denselben flach halten würden und keine allzu langen Pässe in das Publikum schlagen. Die Leute wollen guten Fußball sehen. Und dazu gehört neben vielen zielgenauen flachen Pässen heutzutage immer noch, dass das Runde irgendwann ins Eckige fliegt – und nicht dauernd auf die Tribüne. Seit dem Anstoß scheinen sich meisten Politiker daran gehalten zu haben. Bleibt abzuwarten, ob sie es bis zum Finale durchhalten, den Mund zu halten.

Politiker haben schließlich schon viel Mist über Fußball geredet, schlimmeren noch als Fans, Spieler oder Trainer. Das war schon immer so und lud nicht erst 11FREUNDE-Autor Philipp Köster zu einer Generalabrechnung ein. Die Debatte um das Verhältnis von Politik und Fußball ist breit und vielschichtig. Man kann tief und tiefer in sie einsteigen.

Dabei machen selbst Politiker bisweilen ganz lustige Figuren am Ball, der eine etwas engagierter, der andere etwas eleganter.

"Made in…": Der Herkunftsland-Effekt

Ärgerlich für international agierende Unternehmen, auch wenn sie gar kein direktes Geschäft mit dem Fußball machen, können vor allem politische Unstimmigkeiten zwischen Regierung und den Bewohnern ihrer Länder werden. Nicht etwa, weil eine Regierung wegen eines verlorenen Spiels zu Boykotten aufrufen würde – vielmehr, weil sie dazu betragen, dass sich hässliche Vorurteile in den Köpfen von Menschen verfestigen und diese dann tatsächlich negative Effekte selbst auf Produkte eines Landes haben können.

Seit den 1960er-Jahren wird der Country-of-Origin-Effekt, also der Ursprungs- oder Herkunftsland-Effekt, erforscht. Heute gilt er als einer der am meisten untersuchten in der internationalen Verhaltensforschung. Viele Studien zeigten, dass Konsumenten und institutionelle Einkäufer subjektive Informationen und Vorurteile über ein Ursprungsland nutzen, um auf die Qualität eines Produktes zu schließen und Kaufentscheidungen zu treffen – ein messbarer Effekt. Und häufig wurde bestätigt, dass es signifikante Unterschiede in der Beurteilung von Produkten gibt, deren einziger Unterschied das Herkunftsland ist. Einige Studien sehen das Ursprungsland des Lieferanten – noch vor der Unternehmensgröße, vor Preis und Qualität – sogar als wichtigstes Kriterium für die Auswahl eines Verkäufers.

Das Image eines Landes kann einfach abgerufen werden, um auch unabhängig von Erfahrungen auf bestehende, vereinfachende Denkmuster zurückzugreifen. Dies führt zu kognitiver Entlastung, Entscheidungen fallen einfacher und schneller. So eben wirkt ein Vorurteil, als das der Country-of-Origin Effekt vor allem gesehen wird. Und leider gilt dieses Muster in vielen Studien als "langfristiges und nur schwer änderbares Konstrukt".

In diesen Tag nun werden auf französischen Rasen wieder Länderimages geprägt: Die Deutschen spielen so, weil sie so oder so sind, darum bauen sie auch solche Autos und seit neuestem foulen sie auch gerna mal. Die Italiener haben das schon immer getan, sind weinerlich und lamentieren und so sind ihre Autos, die Russen sind ja alle gedopt und so weiter und so weiter. Die Liste solcher Vorurteile ist endlos. Dazu gehört auch, dass die Italiener, egal wie sie spielen, bei einem wichtigen Fußballspiel von Deutschland nicht geschlagen werden können. Würde Löws Truppe dies jetzt mal gelingen, wäre sie die größten, auch ohne EM-Titel.

Nicht dass die gute wirtschaftliche Lage des Exportlandes Deutschland eine direkte Folge des WM-Titels 2014 wäre. Einen Anteil daran dürfte das Tor von Götze vor zwei Jahren aber doch gehabt haben. Dass da auch eine Kanzlerin mal in die Kabine guckt, um sich mit einem halbnackten Muslim erwischen zu lassen, hat also durchaus höhere Gründe, und vielleicht gibt es ja neben oder wegen dem CoO-Effekt wirklich auch eine "Fußball-Politik-Analogie"?!

Da hat es doch auch etwas, dass die Briten mitten in der EM für den Austritt aus der EU gestimmt haben und kurz danach auch aus dem europäischen Fußball-Turnier  geflogen sind - gegen Island! Es ist kaum vorstellbar, dass das eine mit dem anderen so gar nichts zu tun haben soll. Nur was genau und wie viel, das ist weder einfach zu erklären, noch ist es bereits ernsthaft untersucht worden.

Das Ende ist ungewiss

Schwierig wird es vor allem, weil sich immer noch alles um ein Spiel mit ungewissem Ausgang schart. Vorhersagen dessen, was kommt, sind ähnlich schwierig wie die von Börsenkursen. Skandale kann es geben oder Zufriedenheit auf allen Seiten. Nichts lässt sich vorhersagen, möglich ist das in Grenzen nur für das, was passiert, wenn etwas passiert. Dann führen kluge Analysen zu klugen Reaktionen. Wie die Leute und die Politiker etwa auf Fußball-Ergebnisse und ihre Umstände reagieren, hängt dabei eng mit dem aktuellen wie dem traditionellen Verhältnis von Ländern zusammen – nicht viel anders als bei dem oben beschrieben Effekt.

Vor der EM musste man noch fürchten, dass die Deutschen etwa die Türken mit 6:0 "in die Wüste schicken" könnten, wie diese einst die Armenier (nur im übertragenen Sinn!). Es hatte ja Gründe, dass weder Merkel, noch Vizekanzler und Wirtschaftsminister Gabriel oder Außenminister Steinmeier an der Abstimmung des Bundestags über die Armenien-Resolution teilgenommen haben, die in der Türkei als böses Foul gewertet wurde. Wenn man sich da vorstellte, kurz vor dem Ende hätte ein deutscher Abwehrspieler, vielleicht Boateng, durch ein geschicktes Foul im Strafraum beim Spielstand von 0:0 einen türkischen Treffer verhindert – und alle hätten es gesehen, nur nicht der Schiedsrichter – und Deutschland dann, wie immer, das Elfmeterschießen gewonnen... Für einen Populisten wie den türkischen Präsidenten Erdogan wäre das ein gefundenes Fressen gewesen und hätte mehr seiner Landsleute auf die Palme gebracht als sein kindisches Aufhebens um Böhmermanns Beleidigung.

Hätte... hat aber nicht: Die Türken sind raus, die Ukraine und die Russen (offensichtlich nicht gedopt) und damit auch viele Chancen auf politisch brisante Begegnungen. Der Sport hat entschieden. Die Wahrscheinlichkeit, dass es zu solchen Bildern kommt, ist beim Fußball zwar generell höher als die eines größeren Lotto-Gewinns. Sie ist aber – Jürgen Kohler sei Dank! – nicht höher als die Aussicht auf einen kleinen. Aus dem bisherigen Turnierverlauf sind die größten Risiken aber inzwischen entwichen. 

Vielleicht sind am 10. Juli also alle glücklich. Vielleicht gibt es tolle Überraschungen (vielleicht: Island schlägt die Deutschen im Halbfinale :-) oder das Ergebnis entspricht den Erwartungen. Vielleicht geben sich alle fröhlich die Hand, freuen sich über ein großes Win-Win und winken mit dem Wimpel. Auch das ist bei dieser EM natürlich möglich. Denn im besten Fall ist Fußball doch nur ein Spiel.

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