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Future of Mobility: Kampf der Mobilitätskulturen?

Die aktuellen Debatten um Dieselmotor und E-Antriebe spiegeln nichts weniger als einen Kampf um Mobilitätskulturen. Es fällt auf, dass sich die zahlreichen Studien zur neuen E-Mobilität vor allem an einer gutverdienenden, urbanen Zielgruppe ausrichten.

Weitgehend unbeachtet bleiben dagegen die Bedürfnisprofile breiterer Bevölkerungsschichten. Was wollen die? Was brauchen die? Passen die bisher anbietbaren Nutzungsweisen der E-Mobilität auf deren Lebenskonzepte? Wo bleibt gerade für Deutschland die so hochmobile und für das Wirtschaftsgeschehen wichtige Bevölkerung der kleinen Orte und des flachen Landes? Denn in Deutschland findet die Wertschöpfung eben nicht nur in einigen städtischen Zentren und „Metropolregionen“ statt. Und so gibt es eine Vielzahl von Menschen, die sich nicht nur in Freizeit und Urlaub auf lange Distanzen bewegen müssen.

Tatsächlich kann man manchmal den Eindruck gewinnen, als nutzten einige entschiedene Verfechter der E-Mobilität den technischen Paradigmenwechsel, um die Bedeutung von Mobilität in der Gesellschaft überhaupt neu zu definieren: als sollte über die Durchsetzung der e-mobilen Gesellschaft der Zugang zu Mobilität und die Berechtigung von Mobilität an sich neu ausgehandelt werden. Droht so der E-Antrieb zum „Veggie Day“ einer neuen Mobilitäts- und Verkehrspolitik zu werden?

Weder moralische Imperative noch die alleinige Fixierung auf Fragen des Schadstoffausstoßes sind geeignet, um Elektromobile für einen neuen Massenmarkt zu entwickeln. Beide Triebfedern widersprechen sich unter Umständen auch – steht hinter der Kritik an manchen Formen der Mobilität nicht die Vision vom „Volk ohne Wagen“? Für die gesellschaftliche Debatte um neue Mobilitätsformen ist es schädlich, wenn diese Vision nur als unausgesprochene Motivation vorhanden ist und nicht deutlich genug artikuliert wird.

Dass sie hier und da vorhanden ist, würde erklären, warum bei vielen Meinungsführern des Mobilitätsdiskurses das Bewusstsein für breitere mobilitätsbezogene Nutzererwartungen in Abhängigkeit von objektiven Anforderungen relativ schwach ausgeprägt ist. Symptomatisch dafür ist, dass in vielen Studien mit der Kategorie von „attitude groups“ gearbeitet wird, also marktstudiengängigen „Einstellungen“, und nicht mit nachgefragten Leistungsprofilen.

Tatsächlich ist es aber so, dass nicht nur die individuelle Entscheidung oder die persönliche Moral über die Wahl von Verkehrsmitteln und Mobilitätsstilen entscheidet. Vielmehr werden solche Einstellungen, Haltungen und Verhaltensstile in starker Abhängigkeit von lebenspraktischen Herausforderungen ausgebildet, erlernt und dauerhaft geprägt. Diese Abhängigkeit muss bei der Entwicklung von Visionen für eine neue Mobilität stärker berücksichtigt werden.

Dazu kommt, dass zahlreiche der neuen digital-basierten Mobilitätsangebote, wie Apps und Webplattformen, ohnehin aus der Prämisse heraus entwickelt worden zu sein scheinen, dass „bessere Information“ automatisch zu einer „anderen“, „besseren“ Mobilität führen würde. Die Annahme ist offenbar, dass Menschen im Alltag sich jederzeit den Kopf darüber zerbrechen, wie sie nun am besten von Ort zu Ort kommen, und ihre Entscheidungen nicht auf der Grundlage von Routine, Erfahrungswissen, Erlebnissen und Emotionen träfen.

Auch hier ist eine Verbreiterung der Perspektive nötig. Das Wissen über und das Gespür für unterschiedliche soziale Nutzerkulturen muss geschärft werden. Denn für viele Menschen ist das private Fahrzeug emotionaler Rückzugsraum und Identifikationsmittel oder erwünschter Selbstausdruck der Persönlichkeit, vergleichbar mit der Gestaltung der Wohnung oder dem gewählten Kleidungsstil. Mobilität ist für viele Menschen mehr als Transport, sie ist Kommunikation und Teilhabe an der Gesellschaft. In diesem Sinne könnte man von unterschiedlichen „Mobilitätskulturen“ sprechen, über die es mehr in Erfahrung zu bringen gälte. Denn neue System-Standardisierungen, wie sie die E-Mobilität erfordern, müssen genug Flexibilität und Anpassungsmöglichkeiten zulassen, um für eine holistisch verstandene Mobilität und über Ingenieursphantasien hinaus Alltagstauglichkeit zu beweisen.

Das Gegenteil ist allerdings derzeit zu beobachten: Der Begriff der Mobilitätskultur hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Verengung durchlaufen. Eingebracht wurde der Begriff einst von Konrad Götz und Jutta Deffner vom ISOE Institut in Frankfurt a.M., um für definierte Räume das Zusammenspiel von Infrastrukturen und Verkehrsangeboten, politischer und administrativer Verkehrslenkung sowie individuellen Mobilitätswahrnehmungen und Verkehrsentscheidungen analytisch zu beschreiben.

Inzwischen beschäftigen sich Beiträge zur „Mobilitätskultur“, sei es am renommierten Verkehrszentrum des Deutschen Museums in Münchenoder durch das ISOE-Institut selbst auf der aktuellen IAA in Frankfurt aber mit der Durchsetzung neuer Mobilitätskonzepte, die wiederum exklusiv in Visionen von E-Mobilität und Fahrradverkehr münden.

Die Erfahrung vom „Sich-bewegen-Müssen“ gegen eine „Transformative Wissenschaft“

Die Erfahrung vom „Sich-bewegen-Müssen“ läuft also Gefahr, in eine Frontstellung gegenüber einer sich als „transformativ“ verstehenden Forschung zu geraten, bei der die „transformative Wissenschaft“ für sich in Anspruch nimmt, nicht mehr nur Lösungswege und Alternativen zu erforschen, zu testen und zur Diskussion zu stellen, sondern das eigene Forschen schon dezidiert einer definierten Zielstellung unterwirft, und demnach also nur erforscht, wie einer ohnehin schon präferierten Technik zum Durchbruch verholfen werden kann. Die Gefahr besteht darin, dass widersprüchliche Alltagsbeobachtungen nicht ausreichend gewürdigt werden. Dazu gehört z.B. das deutlich wachsende berufsbezogene Pendlerverhalten über große Distanzen von mehr als 50km. Pendelten nach einer Erhebung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Jahr 2000 noch 53 Prozent der Arbeitnehmer zwischen Wohn- und Arbeitsort, so sind es inzwischen (letzte Erhebung 2015) schon 60 Prozent. Ähnliches lässt sich für Österreich und vor allem die Schweiz beobachten. Letztere wird in Zukunftsszenarien wie der „Vision Mobilität Schweiz“ sogar schon als ein geschlossener Metropolraum gehandelt.

Dabei steigt nicht nur die Zahl der Pendler, sondern auch die zurückgelegten Wegestrecken – von durchschnittlich 14,6 km (einfache Strecke) im Jahr 2000 auf 16,8 km im Jahr 2015. Und das trotz der relativ günstigen Situation auf dem Arbeitsmarkt. Von einer sich auf den urbanen Raum konzentrierenden „neuen Mobilität“ gegenüber einem sich leerenden ländlichen Raum kann also keine Rede sein. Da die öffentlichen Verkehrsmittel außerhalb der Ballungsräume kaum zum Pendeln genutzt werden, kommt die dargestellte Entwicklung vor allem dem Pkw-Verkehr zugute. Eine solche Entwicklung stellt aber die E-Mobilität nicht nur vor technische, sondern auch ethische Fragen: Da sie auf lange Strecken und auf absehbare Zeit den Verbrennungsmotoren unterlegen ist, konkurriert die E-Mobilität als Individualverkehr eigentlich nur mit einem anderen Planungsziel – einem gestärkten öffentlichen Nahverkehr. Dies muss in der Debatte um die Förderung der E-Mobilität viel deutlicher gesagt werden.

Soziale Interessen: Kohäsion und Kommunikation

Halten wir noch einmal fest: Mobilität ist wesentlich eine Frage von Bedürfnissen nach Selbstausdruck, nach direktem sozialem Austausch mit Anderen (Kommunikation) und gesellschaftlicher Teilhabe. Öffentlich geförderte Masterpläne müssen die Komplexität von Mobilitätsbedarfen und Mobilitätskulturen, die sich im Alltagshandeln ausdrücken, berücksichtigen.

Denn die Zunahme beim Pendeln bedeutet eben nicht, dass die sozialräumlichen Bindungskräfte der Herkunfts- und Heimatregionen für die Menschen an Bedeutung verloren hätten und damit eine höhere Volatilität einhergeht. Vielmehr bestätigt die wachsende Pendelbereitschaft unter Inkaufnahme längerer Wegstrecken den Wunsch, auch unter den Bedingungen von befristeten Arbeitsverträgen, zunehmender Zeit- und Projektarbeit bestehende Bindungen an soziale und geographische Räume selbst unter hohem Kostenaufwand zu erhalten. Der mögliche Umzug in Richtung Arbeitsplatz wird vermieden.

Diese Bedeutung von sozialer Interaktion und Kohäsion, von kommunikativen Möglichkeiten und sozialer Vernetzung für das mobile Verhalten lässt sich auch an der Nutzung von Mobilitätsplattformen und neuen Mobilitätsangeboten ablesen. Eine Auswertung des Nutzerverhaltens wie der Nutzerbewertungen dieser Angebote kann ein Weg sein, komplexen Mobilitätskulturen auf die Spur zu kommen – sie kann Einblicke nicht nur in Milieus, Altersgruppen und Lebensstilorientierungen gewähren, sondern auch Aufschlüsse über die Optimierbarkeit dieser Angebote liefern.

Die Ermittlung von Präferenzen im Hinblick auf Mitfahrzentralen, Car- und Ridesharing-Angebote lässt unterschiedliche Mobilitätskulturen erkennen, die aber gemeinsam haben, dass für die Nutzer „neu“ nicht immer „besser“ sein muss: Selbst veraltete, aber vertraute Systeme können ihre Nutzer und Fans finden, und weniger Aufwand in Aufmachung und Funktionen wird oft als verlässlicher und ehrlicher empfunden.

Deutliche Unterschiede zwischen den Nutzergruppen zeigen sich hingegen schon bei deren Präferenz von Spontaneität und Flexibilität des Reisens gegenüber einer höheren sozialen Kontrolle und Sicherheit sowie in ihren Bewertungen von Anonymität. Dies kann sich z.B. in der jeweiligen Akzeptanz von Mitgliedschaften und Berichtspflichten ausdrücken.

Die Akzeptanz der jeweiligen Preisrahmen der Angebote bieten offensichtlich weitere aufschlussreiche Kriterien zur Einschätzung von Reisenden und lassen sogar Rückschlüsse auf deren Motivationen zu. Gerade auch die Frage nach der Bereitschaft, Preise erst mit den potentiellen Mitfahrern zu verhandeln oder doch fixe Bezahlmodelle zu bevorzugen liefert Indikatoren zu Risikoneigung, Spontanität und der Freude an aktiver sozialer Interaktion.

Weiterhin können Auskünfte über die Nutzung von Angeboten des Modal split und die Vernetzungen mit anderen Mobilitätsangeboten herangezogen werden, um unterschiedliche Publikumssegmente zu identifizieren: Wie kombinieren sie verschiedene Verkehrsmittel miteinander, werden Umsteigepunkte und Umwege akzeptiert oder zu vermeiden gesucht?

Manche der neuen digitalen Mobilitätsplattformen haben sich klar das Ziel gesetzt, Gruppenbildungen zu befördern. Einerseits um so Aspekte einer sozialen Netzwerkplattform mit Mobilität zu verbinden, andererseits um möglichst dauerhafte Fahrgemeinschaften zu stiften. Die Frage nach der Bereitschaft der Nutzer, Vorschläge zu Fahrgemeinschaften zu akzeptieren, besitzt ebenfalls eine Aussagekraft, und über die bevorzugten Gruppenbildungen können auch Korrelationen mit anderen Aspekten von Lebensstilpräferenzen, Altersdurchschnitten und sozialen Lagen abgeglichen werden: Wie hoch ist das Kommunikationsbedürfnis? Wie wichtig ist es als Motiv zur Teilnahme an Fahrgemeinschaften? Welche Mitfahrerprofile werden bevorzugt und wiederholt abgerufen? Und welche Rolle spielen eventuell institutionelle Partner für diese Gruppen- und Netzwerkbildungen? Dies können Unternehmen, Gebietskörperschaften oder Hochschulen sein, aber auch schon bestehende regionale Netzwerke, die über Bekannt- und Verwandtschaften Vertrauen aufbauen und Identifikation mit einem Mobilitätsangebot schaffen.

Alle diese Informationen können dazu dienen, genauere und innovative Kriterienlisten zur Erfassung und Beschreibung von Mobilitätskulturen zu entwickeln und so verbesserte Zugriffe auf Publikumssegmente und ihre Mobilitätsvorlieben zu ermöglichen. Ein solches verbessertes Wissen über Nutzersegmente kann es z.B. erleichtern, bestehende Angebote von Mobilitätsangeboten und Informationsapps noch besser auf ihr ideales Zielpublikum hin zu optimieren, die Kundenansprache zu verbessern oder zu klären, warum die Nutzerstruktur dem eigentlich avisierten Zielpublikum nicht entspricht.

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